Dem Archiv der Saarbrücker Zeitung entnommen.
http://saarland.sz-sb.de/Elias/detail_it.jsp?number=1
Erschienen: 03.02.2009 / SZR / SBM_MAN / ATDT_2. Ressort: Themen_des_Tages. Textname: tt2-3.Polizei-Aufmacher.ART.
Erste Hilfe für die Polizisten-Seele
Nach Extremsituationen wie beim blutigen Familiendrama in Roden hilft Einsatzkräften ein Betreuungskonzept
Auch Polizisten, die Leid gewöhnt sind, stecken Extremsituationen nicht leicht weg. Damit sie ihre Belastung nicht verdrängen, nutzt die saarländische Polizei nach dem Rodener Drama ein Betreuungskonzept.
Von SZ-Redakteur Harald Knitter
Saarlouis. Als sich das Ausmaß des Schreckens abzeichnete, lief der Notfallplan sofort an. „Das in Roden war einer der schlimmsten Anblicke, die sich einem Polizisten hier geboten haben“, sagt Norbert Rupp, Leiter des Polizeibezirks Saarlouis. „In außergewöhnlichen Fällen sollen meine Mitarbeiter mich anrufen, hier haben sie es innerhalb von 15 Minuten getan. Ich hätte mir den Anblick gerne erspart, aber ich hatte Mitarbeiter dort, die in hohem Maße betroffen waren. Sie sollten sehen: Der Chef ist auch da.“
Außerdem riefen die Hilfsdienste vor Ort Notfallseelsorger Winfried Lorenz. Er und seine Kollegen vom Fachdienst für Psychosoziale Unterstützung in Notfällen (PSU), der 1996 entstand, sind meist nach Bränden und Unfällen, ob im Verkehr oder zu Hause, gefragt. „Wir kümmern uns in erster Linie um Opfer, Angehörige und Augenzeugen“, sagt Lorenz. „In Fällen wie jetzt unterstützen wir auch die Polizei. Beim Überbringen einer Todesnachricht sind wir dabei, um Erste Hilfe für die Seele zu leisten.“
Alarmiert von Freunden der Familie, fuhren die Polizeibeamten am Samstagabend vor einer Woche mit Blaulicht und Martinshorn in die Gerberstraße. Die Beamten mussten von hinten durch den Keller hoch ins Haus. „Der Druck ist enorm, wenn ich nicht weiß: Finde ich dort jemanden und ist dem noch zu helfen?“, erläutert Rupp. Sie trafen im Wohnzimmer auf die mit einer Axt erschlagene Frau, den volltrunkenen Ehemann mit Blut besudelt auf der Couch. In ständigem Hoffen und Bangen gingen sie von Zimmer zu Zimmer, fanden Stieftochter (20) und Sohn (6) des Mannes mit einem langen Küchenmesser getötet, nur der dreijährige Sohn lag unversehrt im Kinderbett.
Damit es nicht noch zusätzliche Opfer solchen Grauens gibt: Bei Polizisten, die durch den Einsatz traumatisiert den Schrecken nie mehr loswerden, wendet die saarländische Polizei ein Betreuungskonzept an, das nach dem Amoklauf an der Erfurter Schule 2003 entwickelt wurde. Rupp hat es mit entwickelt.
Noch in der Nacht der grausamen Entdeckung holte er seine Einsatzkräfte zusammen: „Die Reaktion war erstaunlich. Als Ruhe einkehrte, erzählten sie Vorfälle von vor zehn, 15 Jahren, eins zu eins, als ob nur eine Schublade aufgegangen ist.“
Stufe zwei folgte am Mittwoch: Landespolizeipfarrerin Christine Unrath und Landespolizeidekan Rolf Dillschneider, die zusammen mit dem Polizeiarzt und dem Polizeipsychologen zum Betreuungsquartett gehören, setzten sich mit den betroffenen Beamtinnen und Beamten aus Saarlouis zusammen. Sie zeigten auf, was ihnen widerfahren kann, „dass sie keine Weicheier im falschen Beruf“ sind, wenn sie ungewohnte Reaktionen zeigten wie Schlafstörungen, Heißhunger auf Süßes oder den schlimmen Anblick nicht vergessen könnten. So etwas kann auch erst nach drei oder vier Wochen auftreten. „Wenn der Hochstress abflaut, kommen die Fragen“, erklärt Unrath. Die Betreuer haben ein Zeugnisverweigerungsrecht. Unrath betont: „Es kann sinnvoll sein, einen absoluten Schutzraum zu geben als Asyl der Seele, ohne Strafverfolgungszwang.“ Religiöse Fragen werden auch besprochen. „Es kommt oft vor, dass jemand sagt: Mein Glaube kommt ins Wanken. Wie kann Gott das zulassen?“, berichtet Dillschneider. Mussten Polizisten zur Waffe greifen, überlegen manche: Kann man unschuldig schuldig werden, etwa um einen Amokläufer durch einen Schuss auszuschalten?
Schon an der Fachhochschule gehen alle künftigen Polizisten durch unsere Hand, sagt der Polizeidekan: „Ist klar, dass man extremen Belastungen ausgesetzt wird, ist es wichtig, darauf vorbereitet zu sein.“ Rupp schränkt ein: „Man kann noch so oft beschreiben, wie Blut aussieht und ein verletzter Schädel. Aber wenn man es selbst sieht, wenn man das Blut riecht, das Leid hört, ist es immer ein Schock.“ Absolventen der FH haben für ihre Diplomarbeiten anonyme Befragungen durchgeführt, auch über die psychischen Belastungen von Polizisten. „Da ist viel mehr zu finden als die ‚harten Kollegen‘ sonst zugeben“, stellt der Polizeichef Rupp fest. „Wir merken, dass diese Gesprächsmöglichkeit auf fruchtbaren Boden fällt.“ Unrath stimmt zu: „Die Erfahrung zeigt, dass die Kollegen lernen, sich zu öffnen. Gerade ältere sagen: Das gab es früher nicht, das tut uns gut.“
Eine schwere Belastung – etwa der Schusswaffengebrauch, die Bedrohung des eigenen Lebens, das Erleben von Tod oder schweren Verletzungen anderer Personen – könne einem Dienstunfall gleichkommen, manchmal bis zur Berufsunfähigkeit. Ein Unterstützerteam von zehn Polizisten hilft betroffenen Kollegen bei Organisatorischem.
Nach extremen Belastungen wie in Roden überlässt Rupp es seinen Einsatzkräften, ob sie einige Zeit frei nehmen oder im Dienst bleiben wollen. Polizeipfarrerin Unrath meint: „Oft ist es nicht ratsam, sie aus dem Dienst zu nehmen. Es fehlt ihnen dann der Kontakt zu den Kollegen, die Ähnliches erlebt haben. Und sie erfahren nicht den Fortgang des Falls, der ihnen zusetzt. Für viele ist die Arbeit das Korsett, das sie aufrecht hält.“
„Sie sind keine Weicheier im falschen Beruf.“ Polizeipfarrerin Christine Unrath über Polizisten mit Stress-Symptomen.
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„Beim Überbringen einer Todesnachricht sind wir dabei, um Erste Hilfe für die Seele zu leisten.“ Notfallseelsorger Winfried Lorenz
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Viele Polizeibeamte erleiden durch Extremsituationen im Dienst ein Trauma.
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Fotos: dpa/Becker & Bredel; Fotomontage: SZ